Das Staatstheater Braunschweig zeigt in der nächsten Spielzeit als erstes Theater eine spartenübergreifende Neuinterpretation von Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«
Eine spartenübergreifende Neuinterpretation von Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen«, wie sie noch kein Theater zuvor versucht hat, steht im Mittelpunkt der Spielzeit 2022/2023. Das Musiktheater, das Staatsorchester, das Schauspiel, das Tanztheater und das JUNGE! Staatstheaterbündeln ihre Kräfte. Während das Musiktheater eine Neuinszenierung von Wagners »Rheingold«erarbeiten wird, präsentiert das Schauspiel eine Uraufführung der Autorin Caren Jeß für Schauspieler:innen, Instrumentalist:innen und einen Sänger, die sich mit dem Walküre-Stoff auseinandersetzt. Auch der »Dritte Tag des Bühnenfestspiels« wird eine Transformation erfahren, nämlich in der Uraufführung von Steffen Schleiermachers »Siegfried – Eine Bewegung«, choreografiert von GregorZöllig in Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen des Ensembles. Und bei der »Götterdämmerung« schließlich kommen alle Sparten des Hauses zusammen und erforschen neue Potenziale des kollektiven Arbeitens.

So wird zwar die gesamte Musik der »Götterdämmerung« mit Staatsorchester und Sänger:innen erklingen, aber mit unterschiedlichen ästhetischen Sprachen und Sichtweisen inszeniert, choreografiert und erforscht. Ein umfangreiches Rahmenprogramm wie u. a. die Projektreihe »Ring-Modulator« des JUNGEN! Staatstheaters im Braunschweiger Stadtraum, zwei tanzwärts!-Spezialausgaben und eine besondere Wagner-Opernjukebox sorgt für eine »Ausweitung des Ringgebiets« – nicht nur in den Stadtraum Braunschweigs hinein.

Den »Ring« umgibt wie vielleicht kein anderes Werk der Musiktheatergeschichte ein Nimbus des Monumentalen. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte galt und gilt er als Prestigeprojekt und Machtgebärde in der Theaterwelt und in der Politik. Gleichzeitig wurden anhand von Neuinszenierungen regelmäßig Anstöße zu den aktuellen Themen der jeweiligen Zeit gesucht, schildert Wagner doch in seinem Epos eine Welt im Umbruch, demokratische Zerfallsprozesse und den Verlust eines Narrativs, das vorbehaltlos geteilt wird. Auch in Braunschweig hat das Werk eine lange Geschichte. Bereits 1878/1879, zwei Jahre nach der Uraufführung in Bayreuth, wurde Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen« in Braunschweig im Theater am Steinweg erstmals aufgeführt – als vierte Bühne der Welt mit einer zyklischen Wiedergabe nach München, Leipzig und Wien.
Die Schaffung wie die Rezeption eines musiktheatralen Kunstwerks waren für Richard Wagneruntrennbar mit dem Anspruch verbunden, gesellschaftspolitische Ideen und Visionen aufzuzeigen und so unmittelbar zu den Diskursen seiner Zeit beizutragen. Dieses »Neue« meint hierbei auch stets eine Reform des Theaters – die Mittel der »klassischen« Oper waren in seinen Augen nunmehr unzulänglich. Heute haben sich die Mittel der darstellenden Künste erneut verändert und die Theater sehen sich mit den Fragen konfrontiert: Welche Formen und Formate, welche Arbeitsweisen und Rezeptionshaltungen sind heute zeitgemäß? Wie verortet sich das Theater in der Stadtgesellschaft?
Diesen Fragen will sich das Staatstheater Braunschweig unter dem Titel »Ausweitung des Ringgebiets« stellen – natürlich in Anspielung auf die Braunschweiger Stadtteile Östliches und Westliches Ringgebiet, die ihre Namen in den 1880er Jahren erhielten, als begonnen wurde, eine Ringstraße um den historischen Stadtkern zu bauen, der wiederum von der Oker wie ein Ring umschlossen wird. Ausgehend von Wagners »Ring des Nibelungen« möchte das Staatstheater einen Weg einschlagen, der sich dezidiert aus den Qualitäten eines Mehrspartenhauses entfaltet und aktiv den Austausch mit der Stadtgesellschaft sucht. Dabei wird die Idee eines »Universalgenies« wie bei Wagner durch die Exzellenz von Kollektiven aus verschiedenen Sparten ersetzt. Es geht also nicht mehr nur um eine Synthese der Künste zu einem Gesamtkunstwerk, sondern viel mehr um die Gebrochenheit und Heterogenität als Modell einer Gesellschaft in Transformation.
»Das Rheingold«
Vorabend des Bühnenfestspiels »Der Ring des Nibelungen« von Richard Wagner
Premiere am 08.10.2022, Großes Haus
Vorstellungen: 14.10., 22.10., 05.11., 12.11., 16.11., 18.11., 27.12.2022, 13.01., 07.06. & 13.06.2023
Den sogenannten Vorabend des »Rings« gestaltet das Musiktheater mit Gesangssolist:innen aus dem Ensemble sowie Gästen und dem Staatsorchester Braunschweig. Drei Schauspieler:innen ergänzen die Besetzung.
Die Musikalische Leitung liegt bei Generalmusikdirektor Srba Dinić, Regie führt Isabel Ostermann.
Göttervater Wotan hat sich hinsichtlich der neuen Burg für seine Götterfamilie verkalkuliert. Die Bauherren Fafner und Fasolt kann er nicht bezahlen. Da Wotans gesamtes Machtkonstrukt jedoch auf der Einhaltung von Verträgen fußt, muss eine Lösung her. Die Fügung wollte es, dass zuvor Alberich dem Rhein und dessen Töchtern das Gold entrissen hatte, indem er tat, was Wotan nicht vermochte: der Liebe abzuschwören. Die Konfrontation zwischen ihnen und der unbedingte Machtanspruch beider setzt ein Räderwerk an Ereignissen in Gang, das am Ende der Tetralogie einen ganzen Weltentwurf vernichten wird. In ihrer Inszenierung des »Rheingolds« wird Isabel Ostermann den Fokus auf diese Charaktere legen und hierbei die Verbindungen zwischen den Antagonisten freilegen,deren Willenskräfte sich gegenseitig bedingen und verderben.
»Die Walküre« (AT)Uraufführung am 16.03.2023, Kleines Haus
Vorstellungen: 18.03., 24.03., 31.03., 01.04., 20.04., 28.04., 12.05., 14.05., 25.05., 31.05., 04.06., 08.06., 14.06., 15.06. & 28.06.2023
Für den Beitrag des Schauspiels zum »Ring« schreibt die mehrfach preisgekrönte Autorin Caren Jeß ein neues Stück für Schauspieler:innen, Instrumentalist:innen und einen Sänger, das Alexandra Holtsch inszenieren wird. Ausgehend von Figurenkonstellationen und Motiven der »Walküre« wie Inzest und Rache, wird Jeß ein eigenständiges künstlerisches Werk schaffen, das Wagners Musikdrama aufsprengt, ergänzt und ins Zeitgenössische erweitert.
»Siegfried – Eine Bewegung«
Uraufführung am 29.10.2022, Großes Haus
Vorstellungen: 06.11., 11.11., 26.11., 10.12., 16.12., 28.12., 30.12.2022, 22.01., 09.06. & 16.06.2023
Der Beitrag des Tanztheaters zum »Ring«-Projekt ist ein Auftragswerk an den Leipziger Komponisten Steffen Schleiermacher, choreografiert von Gregor Zöllig in Zusammenarbeit mit den Tänzer:innen des Ensembles. Die Musikalische Leitung hat Srba Dinić. »Siegfried – Eine Bewegung« transferiert den inhaltlichen Kern aus Wagners Musikdrama in eine Lebensrealität, in der Natur nur noch eine Behauptung ist. Um der Katastrophe zu entkommen, braucht es den Idealismus der Jugend und die Kraft einer vorwärtsstrebenden Gruppe. Denn Siegfried ist kein Einzelner. Siegfried – das ist eine Bewegung. Die Vision einer Welt, die sich hinter den Mauern des ungerechten Wohlstands befindet, ist das Zulassen der Möglichkeit, ein gutes Leben auch anders denken zu können.
»Götterdämmerung«
Dritter Tag des Bühnenfestspiels »Der Ring des Nibelungen« von Richard Wagner
Premiere am 03.06.2023, Großes Haus 10.06., 18.06. & 24.06.2023
Mit der »Götterdämmerung« findet Richard Wagners Tetralogie ein Ende von nicht nur enormem Ausmaß, sondern auch gewaltigem utopischen Potenzial. Liebe, Macht und Intrige – Schicksale, die miteinander so tief verwoben sind, dass sich die Protagonist:innen im Geflecht ihrer Vergangenheit und Familiengeschichten immer weiter verketten, nicht ahnend, dass der Untergang unmittelbar bevorsteht.
Doch wessen? Und wenn die Welt brennt, kann aus der Asche etwas Neues entwachsen? Das Ende der Tetralogie markiert gleichzeitig den Höhepunkt der Braunschweiger »Ausweitung des Ringgebiets«. Die zuvor in einzelnen Projekten wirkenden Sparten kommen in dieser Produktionzusammen und erforschen neue Potenziale des kollektiven Arbeitens. So wird zwar die gesamte Musik der »Götterdämmerung« mit Staatsorchester und Sänger:innen erklingen, aber mit unterschiedlichen ästhetischen Sprachen und Sichtweisen inszeniert, choreografiert und erforscht. Die Musikalische Leitung übernimmt Srba Dinić, Regie und Choreografie kommen u. a. von Isabel Ostermann, Dagmar Schlingmann und Gregor Zöllig.
Beitrag des JUNGEN! Musiktheaters zur »Ausweitung des Ringgebiets«
»To Fall Safely«
Uraufführung, Premiere am 11.09.2022, Lokpark
Vorstellungen: 13.09., 14.09., 15.09., 21.09., 22.09., 23.09.2022, 09.06., 11.06., 14.06. & 15.06.2023
Das JUNGE! Musiktheater hat ein Auftragswerk an Diana Syrse (Komposition) und Katharina Kern & Jeannette Petrik (Libretto) vergeben. Die Produktion für Orchester, eine Sopranistin, einen Countertenor, einen Bariton und eine:n Tänzer:in wird in der Regie von Jörg Wesemüller im Lokpark uraufgeführt.
»To Fall Safely« fragt: Wie können wir Richard Wagners Einfluss in der Gegenwart anerkennen und uns gleichzeitig von ihm befreien? Gemeinsam werfen beide Autorinnen ihre Figuren in ein Terrarium: Di und Eule, die so gar nicht in das Wagnersche Schema von Binaritäten und mythischen Figuren passen. Alpha bündelt alle männlichen Zuschreibungen Wotans, Siegfrieds und der anderen »machtstrotzenden« Helden in einer schablonenhaften Rolle. Dolly ist sein weiblicher Counterpart.
Syrses Kompositionen sind geprägt von Einflüssen aus Jazz, Rock, Fusion, traditioneller Musik aus aller Welt und Avantgarde sowie dem Einsatz nicht-westlicher Instrumente, theatralischer Elemente und Elektronik. Katharina Kern wurde 2020 mit dem Sonderpreis des Deutschen Kinder-und Jugendtheaterpreises ausgezeichnet und hat am Staatstheater bereits den Text für die spartenübergreifende Produktion »Narben« geschrieben.
Konzertprogramm zur »Ausweitung des Ringgebiets«
Sinfoniekonzerte 1, 7 & 10
25. & 26.09.2022; 19. & 20.03.2023; 19. & 25.06.2023, Großes Haus
Das »Unbehagen«, das die Kunst und das Wirken Wagners verbunden mit seinem Antisemitismus und dessen Rezeptionsgeschichte hervorrufen, ist Anlass für einige programmatische Gegenüberstellungen und Ergänzungen im Konzertprogramm, das das »Ring-Projekt« begleitet.
Die Faust-Sinfonie von Franz Liszt, der gewissermaßen als Chefdenker des sogenannten »Neudeutschen« gelten kann, ist in Verbindung mit der Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy hierbei wie einmusikalischer Steinbruch zu denken: Wagner bedient sich aus dessen Material während seiner frühen Schaffensphase zur Entwicklung seiner eigenen Tonsprache. Unvermeidlich ist es, auch dabei seinen Antisemitismus zu denken und auszustellen: die, nach Adorno, »Amfortaswunde im Fleisch der deutschen Kulturgeschichte«, die nicht heilen kann und heilen darf.
Die Präsentation des Siegfried-Idylls, als Überforderung des Helden, in Kombination mit »Natura renovatur« von Giacinto Scelsi kann als Abbildung des Scheiterns der sozialen Utopie Wagners (nicht der musikalischen!) und der Lichtseite seines avantgardistischen Ansatzes verstanden werden. Die Frage nach der Fortschreibung des Werk-Gedankens steht im Raum; vermittelt werden soll, dass Wagnerkritik unweigerlich immer auch eine Kritik der Moderne ist.
Der Vorverkauf für alle »Ring«-Vorstellungen sowie alle weiteren Termine der Spielzeit 2022/2023 startet am 1. Juni 2022. Es sind frei kombinierbare »Ring«-Ticket-Pakete erhältlich, die 15 % Preisrabatt bieten.
Fotos: oh/Melina Rudolf