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Auf dem Schreibtisch der Braunschweiger Löwe

Das Buch das Manuskript der Lebenserinnerungen ist zum Preis von 20 Euro im Buchhandel und im Stadtarchiv Braunschweig erhältlich.
Praxisschild von Walter Heinemann am Bruchtorwall

Das Manuskript der Lebenserinnerungen des jüdischen Arztes Walter Heinemann aus Braunschweig lagerte jahrzehntelang im New Yorker Leo Baeck Institute.

Nun hat das Stadtarchiv Braunschweig die Memoiren – ausführlich kommentiert und reich bebildert – herausgegeben. Das Buch ist zum Preis von 20 Euro im Buchhandel und im Stadtarchiv Braunschweig erhältlich.

New York, Ende der 1950er Jahre: Der aus Braunschweig stammende Arzt Walter Heinemann (1883 bis 1968) sitzt an seinem Schreibtisch und blickt auf sein Leben zurück. Während er seine Erinnerungen auf einer Schreibmaschine zu Papier bringt, fällt sein Blick auf eine Bronzefigur, die ihn bereits seit mehr als 50 Jahren begleitet. Es handelt sich um eine Miniaturausgabe des Braunschweiger Löwen, eines Wahrzeichens seiner Heimatstadt. Heinemann war 1935 aus Deutschland nach Palästina geflohen, 1936 über England weiter in die USA gelangt. Dort, im Exil, hatte er sich eine neue Existenz aufgebaut – der bronzene Löwe begleitete ihn dabei.

Die Erinnerungen, die er nun zu Papier bringt, – für seine Familie, Freunde und Bekannten, denn: „Wer ist schon Heinemann?“, wie er schreibt – übergab er an das Leo Baeck Institut in New York. Dort fand sie der Internist Harro Jenss, der sich als ehrenamtlicher Archivar der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten DGVS mit den jüdischen Mitgliedern der Gesellschaft beschäftigt. Gemeinsam mit dem Medizinhistoriker Benjamin Kuntz vom Robert-Koch-Institut wandte er sich an die Stadt Braunschweig mit der Idee, diese Lebensgeschichte zu veröffentlichen.

In seinen Memoiren schildert er seinen persönlichen und beruflichen Werdegang: Von seiner Kindheit in Braunschweig, dem Medizinstudium in Berlin, der Niederlassung als Magen-Darm-Spezialist in seiner Heimatstadt bis hin zu seiner Emigration und dem Neuanfang in New York. Dabei schildert er auch die antisemitischen Anfeindungen, denen er und seine Familie vielfach ausgesetzt gewesen waren – lange vor dem Beginn des Nationalsozialismus. „Ich war erschrocken, wie sachlich und nüchtern Heinemann davon berichtet, denn es zeigt, dass sie daran gewöhnt waren, das war normal. Dabei stammte er aus einer bürgerlichen Familie, war in Vereinen aktiv und gut vernetzt“, beschreibt die Historikerin und Archivarin Meike Buck, die die Veröffentlichung mit herausgegeben hat. So schildert er, wie seine Tochter als Jüdin von den Tanzstunden der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen war. Doch hier erfährt er auch Unterstützung: die Frau eines befreundeten Kollegen organisierte, als sie davon erfuhr, selbst Tanzstunden, zu der sie Heinemanns Tochter einlud – „eine mutige Tat, 1932“, kommentiert dieser.

Walter Heinemann erzählt viele solcher kleinen Geschichten. Doch seine Lebenserinnerungen sind so viel mehr als eine Sammlung von Anekdoten. „Und doch glaube ich manches Interessante berichten zu können, gerade aus einer Zeit, in der sich unerhörte Umwälzungen auf allen Gebieten vollzogen haben, wo manche Dinge aus meiner Jugendzeit dem heutigen Geschlecht kaum noch glaubhaft erscheinen“, schreibt er selbst.

„Wir waren schon ein außergewöhnliches Team, haben uns aber wunderbar ergänzt: medizinisches Fachwissen und Kenntnisse der Braunschweiger Geschichte“, berichtet Meike Buch. So war Heinemann einer der ersten, die die damals neue Röntgentechnik zur Diagnose einsetzten. Seine Praxis befand sich in der Friedrich-Wilhelm-Straße, später am Bruchtorwall, seine Patientenliste liest sich wie das Who-is-who der Braunschweiger Stadtgesellschaft um die Jahrhundertwende und Anfang des 20. Jahrhunderts. 1933 wurde Walter Heinemann gemeinsam mit zwei anderen jüdischen Ärzten verhaftet. Im Gefängnis Rennelberg traf er auch den dort inhaftierten Braunschweigischen Ministerpräsidenten Heinrich Jasper.

Die emotionale Verbindung zu seiner Heimatstadt, die Heinemann 1960 – nach 25-jähriger Abwesenheit – erstmals wieder besuchte, blieb immer bestehen. Walter Heinemanns Enkelin schenkte die von ihm erwähnte Bronzeminiatur einer befreundeten Braunschweiger Familie, die sie dem Braunschweigischen Landesmuseum 2021 als Leihgabe für die Ausstellung im Jüdischen Museum zur Verfügung stellte. So kehrte dieses Stück persönlicher Geschichte von Walter Heinemann nach Braunschweig zurück.

Foto: oh/© Familie Wolf